Bibel teilen - Glauben teilen
Anleitung zur Sieben-Schritte-Methode
 
Bitte beachten Sie:
Ziel des Bibel-Teilens ist nicht ein Bibelstudium, sondern das Anteilgeben und Anteilnehmen von Menschen, die ihr Leben mit dem Wort Gottes in Beziehung bringen wollen.
Das Gelingen des Bibel-Teilens hängt entscheidend davon ab, ob die Teilnehmer bereit sind
  • aufeinander zu hören und gelten zu lassen, was andere eingebracht haben;
  • ihre Betroffenheit und ihre Erfahrungen einzubringen;
  • ihren Alltag mit dem Wort Gottes in Einklang zu bringen.
  • Das Bibel-Teilen ist dann eine Chance, dass Gott zu uns sprechen kann.
  • Exegetische und theologische Fragen können aufgeschrieben und bei einem gesonderten Treffen einem eingeladenen Fachmann vorgelegt werden.
  • Der Leiter bzw. "Helfer" führt die Gruppe von einem Schritt zum anderen, indem er schrittweise den Text vorliest und sorgt dadurch für eine einladende und offene Atmosphäre.
  • Bei weiteren Treffen ist es angeraten, dass der Helfer wechselt.
  • Etwa 6 bis 8 Personen bilden die ideale Größe für eine Gruppe.
  • Intensive Gespräche können sich an das Bibel-Teilen anschließen, wenn nach dem 7. Schritt reihum die einzelnen einander mitteilen, wie es ihnen beim Bibel-Teilen ergangen ist.
  • Für den Anfang sollten Bibelstellen ausgewählt werden, die von Begegnungen Jesu mit Menschen erzählen. Später kann z. B. das Evangelium vom kommenden Sonntag zugrunde gelegt werden.
Für die ersten Male eignen sich z. B.: Lk 10,38-42; Lk 18,35-43; Mk 4,35-41; Mk 9,33-37; Apg 2,42-47.
Jeder Teilnehmer sollte eine Bibel, zumindest die jeweilige Textstelle vor sich liegen haben. Für die ersten Male ist es auch von Vorteil, wenn jeder Teilnehmer die 7 Schritte schriftlich hat.
 

 
Als Einleitung bei unseren Bibelrunden...
 
 
+ Wilhelm Egger, Bischof der Diözese Bozen-Brixen
* 14. Mai 1940
+ 16. August 2008
 
 
Die vorliegende kleine Bibelkunde möchte eine Hilfe bieten zum Lesen und Verstehen des Neuen Testamentes. Die bemerkenswerten Fortschritte der Bibelwissenschaft haben vielen Christen neue Zugänge zum Schriftverständnis geöffnet, allerdings auch neue Fragen gebracht. So seien hier die wichtigsten Ergebnisse zum Neuen Testament, die von den Einzelfächern der Bibelwissenschaft erarbeitet wurden, kurz dargestellt.
Eine Einführung ins NT lässt sich vergleichen mit der Führung durch eine Stadt: Wer die Stadt nicht kennt, findet so ohne größere Mühe die wichtigsten Stätten und Sehenswürdigkeiten; er wird aufmerksam auf Dinge, die leicht zu übersehen wären und doch verdienen, gesehen zu werden. Wie eine Führung, ersetzt auch eine Einleitung nicht das eigene Beobachten und das Selber-Hinschauen, aber sie macht auf Wichtiges aufmerksam und eröffnet eine neue Sicht.
 
Das Neue Testament - vielfältiges Zeugnis über Jesus Christus
Das "Neue Testament" (abgekürzt: NT) ist eine Sammlung von siebenundzwanzig Schriften, die auf vielfältige Weise - durch Erzählung, Lob, Glaubensbekenntnis, Unterweisung - Jesus Christus als den Heilsbringer für die Menschen, als Weg und Wahrheit schlechthin darstellen. Knapp und genau fasst ein Text aus dem 1. Johannesbrief den Inhalt des ganzen Neuen Testamentes zusammen: "Was von Anfang an war und was wir (gemeint sind die ersten Jünger Jesu) gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde." (1 Joh 1,1 f).
Das Neue Testament ist ein vielfältiges Zeugnis über Jesus Christus, den Heilsbringer, der die Menschen in die Gemeinschaft mit Gott einlädt.
 
Im einzelnen enthält das NT folgende Schriften:
  • die vier Evangelien nach Matthäus (Mt), Markus (Mk), Lukas (Lk) und Johannes (Joh);
  • die Apostelgeschichte (Apg), die von der Entstehung der Kirche und vom Wirken der Apostel, besonders des Paulus, berichtet;
  • dreizehn Briefe, als deren Absender Paulus bezeichnet wird, die an Gemeinden oder Schüler des Paulus geschrieben sind;
  • den Brief an die Hebräer;
  • sieben Briefe, als deren Absender Apostel genannt sind: Jakobus, Petrus (zwei Briefe), Johannes (drei Brie-fe), Judas;
  • die Offenbarung des Johannes (Offb)
 
In der Hauptsache sind diese Schriften in den Jahren 50 bis 100 n. Chr. entstanden. Da einige Daten in der Forschung umstritten sind, seien hier nur allgemein anerkannte Daten der wichtigsten Schriften angeführt:
  • 30 n. Chr.:(Tod Jesu)
  • 50 n. Chr.:1 Thess
  • 50-60 n. Chr.:1 und 2 Kor; Gal; Röm
  • 60-70 n. Chr.:Mk
  • 70-90 n. Chr.:Mt; Lk; Apg
  • 90-100 n. Chr.:Joh
Der Name "Neues Testament" (= Neuer Bund) grenzt diese Sammlung von Schriften von einer anderen Sammlung ab, die wir Christen "Altes Testament" nennen. Während für Jesus die Heilige Schrift von den heiligen Büchern des Volkes Israel gebildet wurde, stellt die frühe Kirche schon bald eigene Schriften als gleichberechtigt neben jene alten Schriften. Diese neue Sammlung erhält im Lauf der Zeiten den Namen "Neues Testament". Mit dem Ausdruck "Neuer Bund" bezeichnet Paulus die durch Christus eingeleitete Heilsordnung (2 Kor 3,6). Gleichzeitig erhalten nun die Schriften des Volkes Israel den Namen "Altes Testament" (AT): Sie sind dadurch gekennzeichnet als Schriften, die die Vorgeschichte des in Christus geschehenen Heiles schildern.
  • Für Christen ist das AT jener Teil des Buches der Kirche, der die Vorgeschichte des in Christus geschehe-nen Heiles darstellt.
  • Aufgrund der Christuserfahrung wird das AT neu gelesen: Christus wird als Ziel und Mitte des AT erkannt (vgl. Lk 24)
Das Neue Testament - Buch der Kirche
Das Neue Testament ist ein Buch der Kirche, weil diese Sammlung von Schriften in der Urkirche als Niederschrift der apostolischen Predigt entstanden ist. Auch in brieflicher Form verkündet Paulus die Botschaft, die er selber empfangen hat (1 Kor 15,3). Indem die Urkirche ihre Verkündigung und ihren Glauben schriftlich niederlegt, schafft sie eine bleibende Norm für den Glauben der späteren Kirche. Schon Paulus trägt der Gemeinde von Kolossä auf, dafür zu sorgen, dass sein Brief auch der Gemeinde von Laodicaea vorgelesen wird, da er überzeugt ist, dass die Mahnung an eine Gemeinde auch für andere Gemeinden Gültigkeit besitzt (Kol 4,16).
Die Hl. Schrift gehört aufgrund göttlicher Stiftung zu den Gründungselementen der Kirche. Diese Überzeugung von der gottgewirkten Entstehung der Heiligen Schriften im Raum der Kirche findet ihren Ausdruck in der Lehre von der "Inspiration" der Hl. Schrift: Gott gründet die Kirche und bewegt durch seinen heiligen Geist Menschen, das in der Urkirche verkündigte Wort Gottes niederzuschreiben. Diese göttliche Führung schließt ein, dass die menschlichen Schriftsteller ihre Fähigkeiten und Kräfte anwenden; sie bewirkt, dass "die Bücher der Schrift... die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften niedergelegt haben wollte" (Offenbarungskonstitution 3. Kap.).
Dass die zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Gelegenheiten geschriebenen Schriften in einer Sammlung zusammengeschlossen wurden, ist ein Vorgang, der sich im Lauf der Kirchengeschichte als notwendig erwiesen hat. Schon der zweite Petrusbrief (um 130) weiß um eine Sammlung von Briefen des Paulus (2 Petr 3, 15f). Diese Schriften wurden gesammelt, um das Erbe der Apostel und ihrer Schüler zu bewahren. Ein anderer Grund, der zur Sammlung und zu einem "offiziellen Schriftenverzeichnis" führte, war die Abgrenzung gegen abweichende Auffassungen: so gegenüber dem Versuch des Irrlehrers Markion (um 150), der die Heiligen Schriften auf das Lk-Evangelium und zehn Paulusbriefe (die nach seiner Auffassung allein das Evangelium von der Güte Gottes enthielten) reduzieren wollte, und gegen phantastische Evangelien, etwa das "Kindheitsevangelium des Jakobus" (das in der Volksfrömmigkeit jedoch großen Einfluss ausgeübt hat, besonders hinsichtlich der Marienverehrung und liturgischer Marienfeste wie die Darstellung Mariens im Tempel). Um 350 bis 400 sind die 27 Schriften, die wir heute im NT lesen, auf verschiedenen Synoden als Norm der Kirche anerkannt. Das Konzil von Trient bestätigt 1546 dieses Schriftverzeichnis als "Kanon - Richtschnur" des Glaubens. Auch die protestantischen Kirchen haben trotz der Einwände der Reformatoren gegen die theologische Aussage einzelner Schriften (z. B. Luthers gegen den Jakobusbrief) diese 27 Schriften anerkannt.
Als Buch der Kirche ist die Hl. Schrift auch im Raum der Kirche zu lesen. Den Reformatoren des 16. Jahrhunderts galt die Schrift als alleinige Glaubensquelle (sola scriptura). Die katholische Lehre, dass die Bücher des AT und NT zugleich mit den Überlieferungen anzuerkennen sind, besagt, dass zum unwandelbaren Buchstaben des Evangeliums eine lebendige Überlieferung gehört: Die Schrift muss in das Leben und das Verständnis der Kirche eingebettet sein, um die Lebendigkeit der Schrift durch die Jahrhunderte zu gewährleisten.
  • NT als Buch der Kirche
  • Zeugnis der Verkündigung und des Glaubens der Urkirche
  • Norm des Glaubens der Kirche
  • in der Kirche zu lesen

Das Neue Testament - Hilfe für Glauben und christliches Leben
Die Schriften des NT ermöglichen es dem heutigen Leser, sich anhand der ursprünglichen Quellen ein Bild über Jesus von Nazaret zu machen. Außerbiblische Quellen bezeugen die Existenz Jesu von Nazaret, doch sind sie nur in geringer Anzahl vorhanden und äußerst kurz gefasst. Da das NT außerdem knapp und anschaulich geschrieben ist (besonders gilt dies für die Evangelien und die Apostelgeschichte), bildet es ohne zu große Schwierigkeiten einen für den Gläubigen gangbaren Weg, den Glauben zu vertiefen.
  • Wer die Schrift nicht kennt, kennt Christus nicht (Hieronymus).
  • Im Wort Gottes erkennen wir Gottes Herz (Gregor).
Allerdings besteht, auch unter interessierten Christen, Befangenheit gegenüber der Bibel und Angst, sie falsch zu verstehen. Hier können die verschiedenen "Gebrauchsanweisungen" und Hilfen zum Bibellesen einen Dienst tun.
Der persönliche oder gemeinschaftliche Umgang mit dem NT bereitet den Leser auf die Bewältigung bestimmter Lebenssituationen vor, indem sie ihn befähigt, das christliche Leben im Licht der wichtigsten Bibeltexte zu verstehen und zu gestalten. Die Anforderungen, denen der Christ begegnet, sind verschiedener Art: sie betreffen seine individuelle Lebensgestaltung, seinen Platz in der Kirche und in der Gesellschaft. Die Bibel, besonders das NT als Botschaft von Jesus Christus, hilft, das Leben im Licht des Glaubens zu deuten. An Bibelkenntnis ist das Verstehen der wichtigsten Bibeltexte notwendig.
  • Der erwachsene Christ soll fähig sein, das christliche Leben im Licht der wichtigsten Bibeltexte zu verstehen und zu gestalten.
Die Offenbarungskonstitution  des 2. Vatikanischen Konzils legt in einem eigenen Kapitel die Bedeutung der Hl. Schrift für das Leben der Kirche dar:
Zusammen mit der Überlieferung sind die Hl. Schriften höchste Richtschnur des Glaubens, weil sie das Wort Gottes selbst vermitteln und die Stimme des Hl. Geistes vernehmen lassen (Nr. 21). Das Wort Gottes ist für Kirche Glaubensstärke, Halt und Leben, reiner unversieglicher Quell des geistlichen Lebens (Nr. 21). Das Studium der Hl. Schrift ist die Seele der Theologie (Nr. 23). Alle Christen sollen sich durch häufige Lesung der Hl. Schrift die "alles übertreffende Erkenntnis Jesu Christi" (Phil 3,8) aneignen (Nr. 25).
 
Urtext und Übersetzungen des Neuen Testamentes
Der Urtext
Das NT ist ursprünglich griechisch geschrieben. Da die Originale der neutestamentlichen Schriften nicht erhalten sind, ist die Frage entstanden, ob die Schriften ohne größere Änderungen oder Fälschungen auf uns gekommen sind.
 
Die älteste Handschrift ist der sog. Papyrus 52 (enthält Joh 18,31-33.37) um 120 n. Chr.
Besonders wichtig sind die Papyri 66 und 75 (Teile aus Lk und Joh) um 200 n. Chr. und der Codex Vaticanus (vollständiges AT und NT) um 350 n. Chr.
 
Diese Handschriften sind auf Papyrus, dem aus dem Mark der Papyrusstaude hergestellten Schreibstoff, geschrieben. Vollständige Handschriften des NT (sie enthalten auch das AT in der griechischen Übersetzung) stammen aus dem 4. Jh. Bedeutsam ist der Codex Vaticanus. Diese Handschrift gilt vielfach als die beste Abschrift des NT.
Zur Treue der Textüberlieferung ist folgendes zu sagen:
  • Kein Literaturwerk ist so oft vervielfältigt und schon in frühester Zeit so oft übersetzt worden. Wir besitzen 5000 Handschriften des NT (Gesamttext oder Teile), dazu noch viele alte Übersetzungen (vom 3. Jh. an). Von den Schriften der antiken Klassiker sind nur wenige Handschriften erhalten (von Sophokles, 5. Jh. v. Chr., nur 100).
  • Das Alter der neutestamentlichen Handschriften führt sehr weit zurück (zum Vergleich: die älteste Handschrift der Werke Platos führt nur ins 9. Jh. n. Chr. zurück).
  • Mit Hilfe der wissenschaftlichen Textkritik lässt sich jene Form des Textes rekonstruieren, die ungefähr um 150 n. Chr. in den Kirchen im Umlauf war. Die weitgehende Übereinstimmung der Textzeugen zeigt, dass man um genaues Abschreiben bemüht war.
Übersetzungen
Die Bibelwissenschaftler arbeiten am griechischen Text. Für Verkündigung und private Schriftlesung dienen Übersetzungen und Übertragungen. Die meisten deutschen Übersetzungen sind formale Übersetzungen, d. h., sie bemühen sich, Wort für Wort möglichst getreu zu übersetzen. Bei einer dynamisch-gleichwertigen Übersetzung geht es darum, dass der Text, der zu seiner Zeit beim Leser eine bestimmte Wirkung erzielt hat, diese auch beim heutigen Leser erzielt. Die faktische Durchführung einer solchen Übersetzung ist dann allerdings schwierig. Wenn eine Bibel aufgrund der Geschichte bedeutsam geworden ist und eine Kirche von diesem Text nicht abgehen möchte (z. B. Lutherbibel), ist u. U. eine Revision notwendig: Die bereits vorhandene Übersetzung wird nur dort verbessert, wo es neue exegetische Einsichten oder der Wandel des Sprachempfindens notwendig machen.
 
Offizielle Übersetzungen
Aus den vielen Übersetzungen ist heute im katholischen Bereich besonders die Einheitsübersetzung zu beachten (Endfassung 1979/80). Diese offizielle, im Auftrag der Bischöfe der deutschsprachigen Diözesen erstellte Übersetzung ist für den Gottesdienst und den Religionsunterricht bestimmt. Wenn dieser Text vorgelesen wird, ist zu beachten, dass der Hörer zwar in der Regel den griechischen Text nicht kennt, vielleicht aber eine andere Übersetzung.
 
Eine gemeinsame offizielle Übersetzung schafft einen Beziehungspunkt für die gemeinsame Glaubensreflexion und gibt eine gemeinsame Sprache für religiöse Sachverhalte.
 
Die Eigennamen sind in der Einheitsübersetzung nach den Loccumer Richtlinien geschrieben. Diese Richtlinien (1971/81) sind ein Kompromiss zwischen wissenschaftlichen Prinzipien und praktischer Notwendigkeit, um die Schreibweise der Eigennamen (die bisher in katholischen und evangelischen Ausgaben verschieden geschrieben wurden) zu vereinheitlichen.
In den evangelischen Kirchen wird weithin ein revidierter Text der Übersetzung Martin Luthers benützt. Damit "auch in Zukunft die Lutherbibel ein einigendes Band der evangelischen Christenheit deutscher Sprache bleiben" kann, wurde eine Revision der Lutherbibel vorgenommen (1984 abgeschlossen).
 

Zugänge zum Verständnis der Schrift
Die geistliche Erfahrung bedeutender Menschen, vor allem der großen Heiligen, und die wissenschaftliche Arbeit weisen Wege zur Erschließung der Hl. Schrift.
 
Die historisch-kritische Methode
Im Anschluss an die Entwicklung der Geschichtswissenschaft wurde auch die Bibel mit den Methoden der Geschichtswissenschaft gelesen. Mit dieser Methode wird vor allem untersucht, in welcher Gemeinde und welcher Situation die Texte ursprünglich verkündet wurden und was sie für die damaligen Leser bedeutet haben. Diese Untersuchungen führen z. B. zur Erkenntnis, dass die Gottesanrede Jesu in der Umwelt Jesu völlig neu und einmalig ist; oder dass Matthäus das Mk-Evangelium als Vorlage benützt hat. Die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode sind eine bedeutsame Hilfe zum Lesen und Verstehen der Texte. Die historisch-kritische Methode hat allerdings nicht das einzige und letzte Wort über das Schriftverständnis. Jede Methode und jeder Zugang bietet Möglichkeiten, hat aber auch Grenzen: beide gilt es zu bedenken. Da die vorliegende Einleitung viele Ergebnisse der historisch-kritischen Methode als Hilfe zum Verstehen des NT bietet, braucht die Methode hier nicht länger dargestellt werden.
 
Geistliche Schriftlesung
Als "Geistliche Schriftlesung" wird eine Weise des Umgangs mit der Hl. Schrift bezeichnet, in der der biblische Text den Leser anspricht und es zu einem Gespräch kommt zwischen Bibeltext und Leser.
Aus den vielen Weisen, die Schrift "geistlich" zu lesen, seien hier einige genannt.
 
Die Aneignung des vierfachen Sinnes
Im Mittelalter wurde der Umgang mit der Hl. Schrift in einem kurzen Vers zusammengefasst, der heute wieder vielfach als eine Möglichkeit der geistlichen Schriftlesung anerkannt wird:
  • Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia.
In der Aufmerksamkeit auf den wörtlichen Sinn (littera) sucht der Leser genau zu erfassen, was der Text sagt. Hier geht es noch nicht darum, Anregungen für das eigene Leben zu erhalten, sondern um schlichtes Zuhören. Zu dieser Art des Lesens bieten Lexika und Register gute Hilfen. Ausgangspunkt jeder geistlichen Schriftlesung, die den Text verstehen will, ist aufmerksames Lesen. Die Glaubenssicht sucht Zusammenhänge zu entdecken. Der Leser fragt:
  • In welchem größeren Zusammenhang steht das berichtete Geschehen?
  • Welche Ereignisse aus der Geschichte des Gottesvolkes im AT, aus der Geschichte Jesu und der Urkirche kann ich in diesem Zusammenhang anführen?
  • An welche eigenen Erfahrungen erinnert der Text?
Die Lebensweisung (sensus moralis): nicht nur die ausdrücklichen Weisungen der Schrift sind für die Lebensgestaltung bedeutsam, sondern alle Worte der Schrift können Licht auf das Leben werfen, wenn man sie hinreichend überdenkt. Die vielfältigen Situationen und Beziehungen des Lebens lassen sich im Licht der Bibel sehen.
Richtungssinn (anagogia): unter diesem Gesichtspunkt entdeckt der Leser Hinweise auf die Vollendung der Geschichte und des eigenen Lebens (z. B. "Jerusalem": irdische Stadt und Hinweis auf das himmlische Jerusalem; ähnliches gilt zu den Wundern).
 
Beim Bibellesen kann man achten:
  • auf die wörtliche Bedeutung des Textes; auf die Zusammenhänge, in denen ein Ereignis steht;
  • auf die Weisung zur Gestaltung des Lebens;  auf die Hinweise, die zur Hoffnung ermutigen.
Zugang aus der eigenen Erfahrung
Auch das Bedenken der eigenen Erfahrung kann helfen, den biblischen Text besser zu verstehen und für die Gegenwart anzuwenden.
Die so genannte Erlebnisanalyse eignet sich, um die eigene Haltung dem Wort Gottes gegenüber zu überprüfen: Der Leser fragt sich, wie der Text auf ihn wirkt. Aufgrund der Einstellung, der Lebensgeschichte, der Erfahrungen, Erwartungen, Ängste und der augenblicklichen Situation liest nämlich jeder den Text auf seine Weise. Eine Reflexion auf die persönliche Art, den Text zu verstehen, hilft die Hindernisse zu entdecken, die dem fruchtbringenden Aufnehmen der Botschaft entgegenstehen. Als Zugang zur Bibel aus der eigenen Erfahrung eignen sich für viele Texte folgende Fragen: Was hat mir am Text gefallen, was hat mich geärgert? Warum? Was ist das zentrale Problem? Was bedeuten einzelne Sätze, Personen oder Dinge im Text für mich? Ein anderer Weg ist die Identifizierung mit dem biblischen Geschehen. Geschichten können helfen, die eigenen Wünsche, Strebungen und Ängste besser zu verstehen. Methodisch geht man so vor, dass man sich gewissermaßen mit den Personen, von denen die Erzählung handelt, identifiziert: z. B. bei einem Wunderbericht sucht der Leser durch die Identifizierung mit dem Kranken herauszubringen, wo er selbst krank ist und Heilung braucht; durch die Identifizierung mit Jesus, wie er in seinem Bereich zum Guten verändernd wirken kann.
 
Biblische Texte kann man auch lesen in der Überzeugung: Das Geschehen des biblischen Textes spricht von niemand anderem als von mir selbst.
 
Kirchliche Lesung der Schrift
Offenheit und Dialogbereitschaft bieten eine weitere Möglichkeit des Zugangs zur Schrift. Wer bereit ist, das eigene Verständnis der Schrift durch andere in Frage stellen zu lassen, läuft nicht Gefahr, die eigene Lösung absolut zu setzen und sich zu isolieren. Durch das Hören auf andere, etwa in der gemeinsamen Schriftlesung, werden viele Dinge bemerkt, die der einzelne übersehen könnte, und werden in stärkerem Maß Erfahrungen des täglichen Lebens eingebracht.
So bietet die Kirche als Gemeinschaft von Hörern Hilfe zu einem besseren Verständnis der Schrift.
  • Gemeinsame Bibelarbeit hilft den Bibeltext genauer zu lesen; Erfahrungen des Alltags ins Bibellesen einzubringen.
Die Erzählweise der Hl. Schrift
Die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode haben manche Christen verunsichert, denn nach den Ergebnissen der Bibelwissenschaft sind nicht alle Texte, auch wenn sie wie Tatsachenberichte aussehen, als Tatsachenberichte zu verstehen. So scheint die Wahrheit der Hl. Schrift gefährdet.
Für ein unbefangenes Lesen der Hl. Schrift ist Einsicht in ihre Erzählweise notwendig. Die Frage nach der Wahrheit der Schrift entstand vor allem, als die Naturwissenschaften zu Erkenntnissen kamen, die denen der Schrift zu widersprechen schienen. Eine erste Klärung für die Frage "Ist die Bibel wahr?" bedeutete die Einsicht, dass die Bibel nicht in erster Linie naturwissenschaftliche Aussagen machen will. Die Bibel will nach einem Wort des hl. Augustinus nicht zeigen, wie die Himmel sich bewegen, sondern will den Weg in den Himmel zeigen. Das 2. Vatikanische Konzil hat diese Erkenntnis zusammengefasst:
  • Die Wahrheit der Bibel ist eine Wahrheit zu unserem Heil.
Die Bibel will nicht Informationen geben über Naturkunde, Psychologie, Astronomie, Geographie, sondern will dem Menschen das Heil anbieten, d. h. sie lädt den Menschen ein in die Gemeinschaft mit dem sich offenbarenden Gott. Wahrheit im Sinn der Bibel bedeutet auch gar nicht in erster Linie Information über Tatsachen, sondern beschreibt ein Verhalten Gottes zu den Menschen: Gott offenbart den Menschen sein Innerstes - sich selbst. Deshalb sagt die Bibel nicht nur, dass Christus die Wahrheit bringt, sondern auch, dass Christus die Wahrheit ist. Die Bibel enthält eine Wahrheit, die uns zum Heil dient. Diese Wahrheit wird in der Bibel auf eine Weise dargelegt, dass die Menschen sie verstehen können (Dei Verbum Nr. 12):
 
In der Hl. Schrift hat Gott durch Menschen nach Menschenart gesprochen. Um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, muss sorgfältig erforscht werden, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.
 
Viele Schwierigkeiten des heutigen Lesers mit der Bibel und viele Einwände gegen den Satz "Die Bibel ist wahr" rühren davon her, dass die Bibel ihrer Entstehungszeit verhaftet ist: die Bibel ist nämlich unmittelbar für Menschen geschrieben worden, die vor drei und zweitausend Jahren gelebt haben; und diesen Menschen sind andere Denk-, Sprech- und Erzählformen eigen als uns. Zu sprechen ist von ihrer Vorliebe für anschauliche und lehrreiche Geschichten.
 

Vorliebe für Erzählungen
Uns ist die Vorliebe für Erzählungen, die uns in der Bibel begegnet, fremd. Der Orientale erzählt nicht nur, wenn es etwas zu berichten gilt - das tun wir ja auch; er erzählt auch dann eine Geschichte, wenn er seinen Gesprächspartner zu einem bestimmten Verhalten bringen will; eine Aufforderung, eine Mahnung wird er nicht direkt sagen, sondern verschlüsselt durch eine Erzählung. Und wenn sein orientalischer Gesprächspartner eine solche Geschichte hört, achtet er gleich darauf, ob da ein tieferer Sinn vorhanden ist.
Während wir bei einer Erzählung oft fragen möchten: ist das wahr?, fragt sich der Orientale: was will er mir mit dieser Geschichte sagen? Wenn so die Geschichte vom Propheten Jonas erzählt wurde, der nicht nach Ninive gehen wollte, und der dann zur Strafe vom Fisch verschlungen wurde, haben die Zuhörer nicht gefragt: ist das eine wahre Geschichte, sondern haben verstanden:
Gott ist barmherzig, denn er schickt sogar zu den verworfenen Niniviten seinen Boten; und: Gehorsam ist verlangt; wenn einer nicht gehorcht, kann das für ihn nur schlimme Folgen haben.
 
Anschauliche Erzählungen
Der Orientale verwendet anschauliche Erzählungen auch dort, wo wir Definitionen verwenden würden. Wir sagen z. B. mit dem Tod Christi beginnt die neue Heilszeit und ist die Zeit des Alten Bundes und des jüdischen Tempels zu Ende. Das Neue Testament sagt es viel anschaulicher: Beim Tod Jesu riss der Vorhang im Tempel, der das Heilige vom Allerheiligsten trennte, entzwei (Mk 15, 38).
  • Anstelle einer trockenen theologischen Definition verwendet der biblische Erzähler manchmal eine anschauliche Erzählung.
 
Lehrreiche Erzählungen
Hier und auch an anderen Stellen der Bibel fällt uns auf, dass die biblischen Erzähler mit den Tatsachen freier umgehen, als wir erwarten würden. Diese Art, mit den Tatsachen umzugehen, sie umzuändern und zu übertreiben, zeigt, was es heißt: die Bibel ist nach Menschenart geschrieben. In der damaligen Zeit war es üblich, Erzählungen so zu formulieren, dass sie auf den Hörer stark einwirken; um diese Wirkung zu erzielen, konnte man einzelne Züge übertreiben, anderes auslassen, neues dazu erfinden. Daraus ergibt sich für das Bibellesen der Schluss:
  • Was für uns wie ein Tatsachenbericht aussieht, kann in Wirklichkeit - eben aufgrund der orientalischen Vorliebe für Erzählungen - eine lehrreiche Geschichte sein, der es nicht um Vermittlung von Tatsachen geht, sondern um Belehrung, Verdeutlichung, Mahnung, Warnung.
Allerdings ist es nicht immer leicht zu unterscheiden, ob es sich bei einem biblischen Text um einen Tatsachenbericht oder um eine Lehrerzählung handelt. Dazu müsste man sehr Vieles darüber wissen, wie in der damaligen Zeit die Menschen sich ausdrückten. Die Bibelwissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten ausführlich mit diesen Fragen beschäftigt. Bezüglich mehrerer biblischer Erzählungen wird allgemein angenommen, dass sie, obwohl sie auf den ersten Blick wie Tatsachenberichte aussehen, nicht Tatsachen berichten, sondern Lehrerzählungen sind, die den Menschen über sein Verhältnis zu Gott und zu den Menschen unterweisen. Dazu gehören die Berichte über die Erschaffung der Welt und des ersten Menschenpaares. Diese Texte wollen nicht sagen, wie es tatsächlich zugegangen ist, sondern zeigen, in welchem Verhältnis der Mensch als Geschöpf zu Gott und zu den Mitmenschen steht.
  • Für den orientalischen Erzähler ist die Darstellung der Bedeutung eines Geschehens wichtiger als die Genauigkeit in der Erzählung der Fakten.
Biblische Erzählungen haben oft einen viel tieferen Sinn als es auf den ersten Blick scheint. Denn diese Berichte wollen nicht nüchterne Tatsachen berichten, sondern vor allem zum Glauben bewegen und eine Weisung für das Leben geben.
Die Hl. Schrift wird dann richtig gelesen, wenn jemand den tiefsten Sinn der Berichte, die Offenbarung über Christus zu verstehen sucht. Deshalb sagt die Offenbarungskonstitution des 2. Vaticanums:
  • Die tiefste Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich Mittler und Fülle der ganzen Offenbarung ist.
Was im einzelnen an historischen Fakten im NT vorliegt, wird in den Ausführungen über Jesus von Nazaret und Paulus dargelegt.
 

Entstehung und Eigenart der Evangelien
In den vier Evangelien wird uns die Gestalt Jesu von Nazaret anschaulich und lebendig vor Augen gestellt.
Der Einblick in die Entstehungsgeschichte der Evangelien und in die Gesichtspunkte, die die einzelnen Evangelisten an der Gestalt Jesu besonders betonen, ist ein Zugang zum besseren Verständnis der Evangelien.
In der 1964 von der päpstlichen Bibelkommission erlassenen "Unterweisung über die historische Wahrheit der Evangelien" sind die heutigen Erkenntnisse über die Entstehung der Evangelien zusammengefasst. Die wichtigsten Aussagen dieses Dokumentes werden hier angeführt und erklärt.
 
Die Entstehung der Evangelien in drei Etappen
Zwischen den Worten und Taten Jesu und ihrer Aufzeichnung in den Evangelien liegt ein weiter Weg. Lehre und Leben Jesu sind in 3 Überlieferungsphasen auf uns gekommen
 
1. Jesus            Worte und Taten (30 n.Chr.)
2. Prediger         Mündliche Verkündigung durch Augenzeugen und ihre Schüler
3. Evangelisten   Niederschrift der Verkündigung und Predigt (65-100 n.Chr.)
Wichtiger Text: Lk 1,1-4
 
Worte und Taten Jesu wurden von den Augenzeugen erlebt, doch haben diese ihre Erfahrungen mit Jesus nicht sofort niedergeschrieben, sondern sie mündlich an ihre Hörer weitergegeben. Schließlich wurden die Berichte über Jesus niedergeschrieben. Dieser Vorgang der Überlieferung der Berichte wird in der Forschung als Traditions-  oder Überlieferungsgeschichte bezeichnet.
 
Jesus von Nazaret
Die Jünger Jesu sind Zeugen des Lebens Jesu und seiner Lehre. Wenn sie auch nicht selber die Evangelien geschrieben haben, konnten sie als Augenzeugen den Verlauf der Überlieferung kontrollieren und korrigieren.
Am Anfang der Überlieferung standen die Worte und Taten Jesu. Diese Unterscheidung ist nicht nur inhaltlich wichtig, sondern auch für die Weise der Überlieferung: Die Worte Jesu wurden von den Jüngern aus dem Mund Jesu selbst aufgenommen und häufig ganz genau im Wortlaut weitergegeben. Noch in den Evangelien weisen die Worte Jesu eine große Festigkeit auf, sodass sie auch dann, wenn sie in mehreren Schriften überliefert sind, sehr genau übereinstimmen. Die Wunderberichte (als Berichte) sind von den Jüngern verfasst. In ihnen wird also erzählt, was den Jüngern wichtig scheint. In der Überlieferung dieser Berichte sind größere Abwandlungen als bei der Überlieferung der Worte Jesu festzustellen. In den Berichten der Taten Jesu unterscheiden sich die Evangelien stärker als in den Worten Jesu.
Gegenüber einigen Übertreibungen der formgeschichtlichen Methode ist festzuhalten, dass die Überlieferung ihren Anfang und Hauptgrund im Wirken Jesu hat und nicht in der schöpferischen Kraft der Urgemeinde, als ob die meisten Berichte erst in der Urgemeinde entstanden seien.
Inhalt (Gegenstand) des Wirkens Jesu, sowohl in Worten als auch in Taten, war die Verkündigung, dass die Gottesherrschaft machtvoll genaht ist, und die Botschaft von Gott als Vater. Auch in seinen Taten (in der Mahlgemeinschaft mit Sündern; in den Protesthandlungen am Sabbat; Krankenheilungen) macht Jesus die Nähe der Gottesherrschaft und die Vatergüte Gottes sichtbar.
Hinsichtlich der Art und Weise hielt sich Jesus an die damals übliche Form der Lehre und Unterweisung: so wurden Fragen überaus deutlich formuliert; um etwas zu beweisen, bediente man sich der Schriften (AT). Zur Verdeutlichung bediente man sich der Vergleiche und Bildworte. Auch ist wahrscheinlich, dass Jesus seinen Jüngern fest gefügte Worte mitgegeben hat (etwa für ihre Verkündigungstätigkeit in Galiläa). Die Existenz so vieler Überlieferungen von Worten und Taten Jesu wäre nicht erklärlich, wenn sich die Jünger später nur erinnert hätten; es ist anzunehmen, dass schon vor Ostern der Glaube und die Hochachtung vor dem Wort Jesu Grund zur Bildung einer Tradition war.
 
Jesus verkündet durch Wort und Tat
Inhalt:  "Genaht ist die Gottesherrschaft"
           "Abba - lieber Vater"
Ziel:     Einladung, die Gottesherrschaft anzunehmen
           Ermutigung zur Liebe zu Gott und zu den Menschen
 
Die (mündliche) Überlieferung durch die Urkirche
Während die Mitte der Verkündigung des irdischen Jesus in der Botschaft von der Nähe der Gottesherrschaft bestand, bildet die Mitte der apostolischen Predigt in der Urkirche die Botschaft von Tod und Auferstehung Jesu. Das ganze irdische Leben Jesu wurde nun von hier aus neu verstanden und im Licht dieser Osterverkündigung gedeutet. In diesem Sinn ist die Schilderung Jesu in den Evangelien aus der Sicht des österlichen Glaubens geschrieben, in einem gewissen Sinn handelt es sich also um eine Übermalung des Bildes des irdischen Jesus von der Osterbotschaft her. Eine Verständnishilfe boten auch die Texte des Alten Testamentes.
Die Überlieferung der Worte und Taten Jesu geschah zuerst in kurzen Einzelstücken. Diese Einzelstücke weisen vielfach eine feste und geprägte Form auf.
Was "Form" bedeutet, kann ein Beispiel aus dem Alltag erklären: Die Begrüßung zwischen Bekannten erfolgt immer in einer bestimmten Form (die nach Gegenden verschieden sein kann). Der Wetterbericht im Radio hat eine immer gleich bleibende Form (auch wenn die Inhalte - je nach dem Wetter - sich ändern). Damit ein Märchen gut erzählt ist und die Kinder wissen, dass es sich um ein Märchen handelt, muss es beginnen: "Es war einmal...". So gibt es verschiedene Formen, etwa Hochzeitsanzeigen, Todesanzeigen, Inserate für Werbung in einer Zeitung u a. Alle haben eine feste Form.
Auch die neutestamentlichen Erzählungen und Worte haben eine bestimmte Form, z. B. Bildworte (vgl. Mt 5,13-16); Gleichnisse: Mit dem Himmelreich verhält es sich wie ... (Mk 4; Mt 13); Wundererzählungen: Einmal brachte man einen Kranken (Mt 8-9); Sprichwörter (Mt 6,34); Streitgespräche (vgl. Mk 2-3); Leidensgeschichte; Auferstehungsevangelien. Wegen dieses Interesses an der Form der Erzählungen wird die Traditionsgeschichte manchmal auch Formgeschichte genannt. Die Überlieferung von Jesus in der Urkirche war lebendig: Es kam nicht so sehr auf den Wortlaut an, sondern auf das Verständnis. Deshalb wurde das durch das Ostergeschehen erlangte Verständnis auch in die Erzählungen des irdischen Jesus eingetragen, z. B. die Erkenntnis, dass dieser der Sohn Gottes ist. Im Lauf der Zeit wurden nämlich die reichen Sinngehalte der Gestalt Jesu immer deutlicher erkannt und fanden ihren Niederschlag in der Predigt. Die Überlieferung von Jesus ist also nicht eine Reportage, sondern Überlieferung des Geschehenen und theologische Sinndeutung.
 
Die Urkirche verkündet und überliefert
Inhalt : Tod und Auferstehung Jesu Christi - Worte und Taten Jesu, gedeutet im Lichte der Osterbotschaft
Ziel: Umkehr und Glaube an das Evangelium und Jesus Christus
 
In der Verkündigung wurde Rücksicht genommen auf die Bedürfnisse der Hörer, z. B. wurde den Judenchristen besonders die Erfüllung der alttestamentlichen Aussagen in Christus verkündet (Mt ist ein Zeuge dieses Bemühens), den Heidenchristen wurde die in Jesus aufleuchtende Güte und Menschenfreundlichkeit angesagt (Lk). Nun wurde auch die Würde Jesu, die vor Ostern weitgehend verhüllt bleiben musste, deutlich ausgesprochen und verkündet. Man fühlte sich auch nicht dem Wortlaut der überlieferten Berichte sklavisch verpflichtet: man setzte neue Akzente und fügte jene Anwendungen an, die für neue Probleme nötig waren. Wenn etwa vor Heidenchristen ein Jesuswort nicht mehr recht verständlich war, hat man es frei, aber sinngemäß übertragen. Ein Beispiel: Wenn Judenchristen die Einsetzungsworte der Eucharistie hörten: "Mein Blut, das für die vielen vergossen wird" (Mt 26,28; Mk 14,24), so war ihnen aufgrund ihrer semitischen Muttersprache verständlich, dass mit dem Wort "die vielen" alle Menschen gemeint waren. In heidenchristlichen Gemeinden wurden diese Worte in einer anderen Form weitergegeben: "das Blut wird für euch vergossen" (Lk 22, 20; vgl. 1 Kor 11, 24 f). Die Situation, in die hinein ein Text verkündet wird, wird "Sitz im Leben" genannt.
Im Beispiel aus unserer Zeit: Eine Hochzeitsanzeige hat, wie schon gesagt, eine feste Form. Die Gelegenheit, bei der eine solche Anzeige versandt wird, ist die Hochzeit. Diese, in unserer Gesellschaft oft wiederkehrende Situation, bei der man sich dieser festen Form bedient, heißt "Sitz im Leben". Der Sitz im Leben, d. h. die Situation, das Milieu, die Bedürfnisse der Gemeinden, die auch auf die Weitergabe einwirkten, sind der Kult (die Feier der Eucharistie: 1 Kor 11,23-26; die Taufe: Mt 28,16-20); die Katechese (die Fastenfrage: Mk 2,18-22); die Missionstätigkeit der Kirche.
Die Verkünder der Urkirche haben die Berichte über Jesus bei verschiedenen, öfter wiederkehrenden Situationen erzählt: Missionierung der Heiden, Gespräch mit den Juden, Katechese der Glaubensschüler Gebetsgottesdienst (Schriftlesung und Schrifterklärung) Eucharistiefeier, Taufe…
 

Die Niederschrift der Überlieferung durch die Evangelisten
 
"Diese älteste Unterweisung wurde zunächst mündlich, dann auch schriftlich weitergegeben; denn schon bald haben viele versucht, einen Bericht über die Begebenheiten abzufassen (vgl. Lk 1,1), die den Herrn Jesus betrafen."
Aus der Einleitung des Lukas-Evangeliums ist ersichtlich, dass es vor den uns bekannten vier Evangelien schon andere Versuche gegeben hat, die Berichte über Jesus aufzuschreiben. Tatsächlich lässt sich aus den Evangelien selbst erkennen, welches die schriftliche Vorgeschichte der Evangelien ist.
 
Die Redaktionsarbeit der Evangelisten:
Die Evangelisten haben aus dem ihnen zur Verfügung stehenden Material an Worten Jesu und Erzählungen über Jesus durch Redaktionsarbeit die Evangelien zusammengestellt.
 
Arbeitsweise der Evangelisten:
Mündliche und schriftliche Überlieferung
Einfluss von Gemeindesituationen und Zielvorstellungen               
Redaktion: Nachforschen, Sammeln, Prüfen, Ordnen, Verbinden, Überarbeiten.
 
Die schriftliche Abfassung der Evangelien wird Redaktion der Evangelien genannt, weil der Evangelist in der Art eines Redaktors vorgeht, der sammelt, zusammenstellt, abändert.
 
Vier Evangelien (Mt, Mk, Lk, Joh)
 
Inhalt:
Worte und Taten Jesu, Leidensgeschichte und Berichte von der Auferstehung, in einer Erzählfolge geordnet, die vom Beginn des öffentlichen Wirkens (bei Mt und Lk: von der Kindheit) Jesu bis zur Auferstehung und der Sendung der Jünger reicht.
 
Ziel:
Von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, zum Glauben führen.
 
Wichtiger Text:
Lk 1,1-4 und Joh 20,30f
 
"Aus den Ergebnissen der neueren Forschung geht hervor, dass Lehre und Leben Jesu nicht nur weitererzählt wurden, um im Gedächtnis behalten zu bleiben, sondern dass sie so verkündet wurden, um der Kirche als Fundament des Glaubens zu dienen."
 
Die synoptischen Evangelien
Wer die ersten drei Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas nebeneinander liest, wird merken, dass zwischen diesen dreien auffallende Ähnlichkeit, aber doch auch wieder Verschiedenheiten bestehen. Um diesen Vergleich zu erleichtern, ist der Text dieser drei Evangelisten in manchen Ausgaben in drei Spalten nebeneinander gedruckt. Eine solche Synopse (griechisch: Zusammenschau) dient zwar auch, um Abhängigkeitsverhältnisse der Evangelien zu erkennen, doch hilft sie auch die theologischen Auffassungen der einzelnen Evangelien zu erfassen.
 
Ein Überblick über die synoptischen Evangelien zeigt folgenden Sachverhalt: Alle drei synoptischen Evangelien haben im wesentlichen denselben Aufbau; es herrscht große Übereinstimmung im Stoff. Die Verwandtschaft geht bis in die Einzelheiten des Stils und der Sprache. Daneben lassen sich bedeutende Unterschiede feststellen (Kindheitsgeschichten bei Mt und Lk; Auferstehungsberichte sind nicht einheitlich; bei Markus fehlen die großen Redestücke; der Redestoff ist bei Matthäus in großen Reden gesammelt).
Schon lange sucht man eine Erklärung für die Tatsache, warum die synoptischen Evangelien in vielen Belangen übereinstimmen, in anderen jedoch nicht. Man spricht deshalb von der "Synoptischen Frage". Folgender Lösungsversuch hat breite Zustimmung gefunden.
Als erster hat Markus ein "Evangelium" zusammengestellt. Daneben gab es noch eine Sammlung von Worten Jesu (Logienquelle). Matthäus und Lukas haben dann diese beiden Schriften (Markus und die Logienquelle) verwendet und sie durch eigenes Gut erweitert.
 
Einige katholische Forscher nehmen an, diese so genannte Logienquelle sei identisch mit dem aramäischen Matthäus-Evangelium, von dem Papias zu sprechen scheint.
In der Logienquelle wird besonders die Predigt Jesu vom Kommen der Gottesherrschaft überliefert und findet der Glaube an Jesus als den bald wiederkehrenden Menschensohn seinen Ausdruck. Ein Bericht über Tod und Auferstehung Jesu fehlt in dieser Quelle. Entstanden ist diese Sammlung in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod. Darüber hinaus hat auch Markus wahrscheinlich schon kleinere Sammlungen (etwa von Streitgesprächen, Gleichnissen) vorgefunden und in sein Werk eingebaut.
 
Die Evangelien als besonderes Buch
 
Die Evangelien stellen sich selbst mit folgender Bezeichnung vor:
 
Mk: Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes (1, 1)
Mt: Buch der Abstammung Jesu ... (1,1)
Lk: ... Erzählung, Bericht (1,1)
Joh: ... dieses Buch (20, 30)
 
Die Bezeichnung Evangelium ist aus dem Anfang des Mk-Evangeliums übergegangen auf die anderen "Evangelien".
Der Ausdruck "Evangelium nach..." stammt nicht von den Verfassern, geht aber ins 2. Jh. zurück. "Eu-angelion" ist im Griechischen der Lohn für den Überbringer der Siegesbotschaft, die gute Botschaft selbst. Im Kaiserkult war der Orakelspruch von der Geburt des Kaisers, von seiner Thronerhebung und Ausrufung ein "Eu-angelion".
Im NT wird das Wort im Sinn von Jes 52,7-10 für die Verkündigung des endzeitlichen, von Gott gewährten Heiles verwendet (besonders von Paulus). Im 2. Jh. erhält es auch die Bedeutung: schriftliche Wiedergabe der Verkündigung Jesu und seiner Apostel.
 
Wichtige Texte:
1 Thess 1,5
Röm 1, 16f
 
Die Evangelien sind nicht Lebensbeschreibungen (Biographien) Jesu; sie schildern nicht den genauen Ablauf des Lebens Jesu, das Werden seiner Persönlichkeit, seinen Charakter und sein Aussehen. Sie lassen Dinge vermissen, die von einer Biographie erwartet werden. Darum ist es unmöglich, mit Hilfe der Evangelien eine lückenlose, befriedigende Lebensbeschreibung Jesu zu geben, wenngleich immer wieder dahingehende Versuche gemacht werden.
Die Evangelien sind nicht unmittelbar nach den Ereignissen aufgeschrieben (obwohl die Augenzeugen natürlich die Weitergabe der Erzählungen verfolgt haben), noch weniger hatten die ersten Hörer die Absicht, eine Reportage (Zeit- und Ortsangaben, Gefühle, Absichten, Bilder) zu schreiben. Die Erzählungen der Evangelien sind aber auch nicht erfundene Geschichten. Auch wenn zur Zeit Jesu die Erzähler mit Details freier umgingen, als es heute üblich ist, und große Lust am Erzählen hatten, berichten die Evangelisten im wesentlichen, was sich mit Jesus von Nazaret ereignet hat: Erfahrungen und Begegnungen mit Jesus. Dies wird von glaubenden Menschen weitererzählt und schließlich niedergeschrieben.
Grundanliegen der Evangelien ist die Glaubensaussage über Jesus, Verkündigung des von Jesus gebrachten Heiles, Werbung für den Glauben an Jesus und Wegweisung zum ewigen Leben.
 

VIERFACHE FROHE BOTSCHAFT
(Die theologische Aussage der Evangelien)
 
Obwohl die Evangelisten vielfach dasselbe über Jesus erzählen, setzt jeder - aufgrund der Gemeindesituation und seiner Zielvorstellung - in seiner Darstellung einen besonderen Akzent.
 
Mk: zeichnet Jesus als den Sohn Gottes, der machtvolle Taten wirkt und sein Wesen in Tod und Auferstehung offenbart;
Mt: betont immer wieder, dass Jesus der verheißene Messias ist, den das Volk der Juden erwartet;
Lk: schreibt das Evangelium der Güte und Menschenfreundlichkeit Jesu;
Joh: zeigt Jesus als den Sohn und den Offenbarer des wahren Gottes.
 
Jedes Evangelium ist als ein Mosaikbild aufzufassen: der Evangelist stellt in der Redaktion Einzelperikopen nebeneinander. Erst wenn alle Mosaiksteinchen gelegt sind, wird das Gesamtbild ersichtlich.
Bei genauem synoptischen Vergleich zeigt sich, dass sogar die einzelnen Perikopen von der Eigenart des jeweiligen Evangelisten geprägt sind.
Die liturgische Leseordnung setzt sich zum Ziel, den Hörer der Sonntagsevangelien mit jener Eigenart Jesu vertraut werden zu lassen, die die einzelnen Evangelisten hervorheben. Deshalb werden die Evangelien in einem Drei-Jahre-Zyklus vorgelesen: an den Sonntagen im Lesejahr A Mt; im Lesejahr B Mk, im Lesejahr C Lk. Johannes, der sich in mehrfacher Hinsicht von den anderen Evangelien abhebt, kommt in jedem Jahr zwischendurch an mehreren Sonntagen zu Wort.
 
Das Geheimnis Jesu, des Sohnes Gottes
(Zur Theologie des Markusevangeliums)
 
Glauben ist nicht etwas Selbstverständliches. Es braucht viele Schritte, bis ein Mensch das Geheimnis Jesu Christi, seinen Tod und seine Auferstehung versteht, und noch mehr, bis sich einer zur tatsächlichen Nachfolge Jesu entscheiden kann. Markus hat als Redaktor, der zugleich Theologe ist und die Schwierigkeit des Glaubens kennt, das ihm zur Verfügung stehende Material so angeordnet, dass die allmähliche Enthüllung des Geheimnisses Jesu und der Weg der Jünger zum Glauben und zum vollen Verständnis deutlich hervortritt. Das Markusevangelium erhält seine Eigenart durch eine Reihe von seltsamen Schweigegeboten:
 
an die Dämonen: 1,25; 1,34
an die Jünger: 8,30; 9,9; 9,30
an die Zeugen des Wunders: 1,44; 5,43; 7,36
 
Dazu gibt es noch Berichte von der Übertretung des Schweigegebotes (1,44f), von Auseinandersetzungen mit Dämonen (1,24f) und vom Jüngerunverständnis (8,14-21).
 
Die Erklärung dieser seltsamen Schweigegebote und Aussagen über die Verständnislosigkeit der Jünger ist nicht einheitlich, doch gelten diese Aussagen als Ausdruck einer bestimmten theologischen Auffassung des Mk; Mk bietet seine Theologie nicht in Lehrsätzen, sondern in Erzählungen.
Nachdem Mk nicht deutlich sagt, warum Jesus dieses Schweigegebot gibt und warum die Jünger unverständig sind, lesen wir das Evangelium zunächst unter dem Gesichtspunkt der folgenden Frage: Wann darf Jesu Wesen geoffenbart werden? Eine erste Antwort lässt sich aus dem (im Sinne der urkirchlichen Glaubensaussage formulierten) Bekenntnis des Hauptmannes beim Tode Jesu erheben. In diesem Augenblick kann ungehindert verkündet werden: Dieser Mensch war Gottes Sohn (Mk 15,39). Erst im Augenblick des Todes darf also das wahre Wesen verkündet werden. Nun erst beginnt die Periode, in der das Wesen Jesu öffentlich verkündet wird, und zwar in der Form: Jesus ist der leidende Gottessohn. In der Aussage von Jesus als dem leidenden Gottessohn sind beide Worte wichtig. Dass von Christus beides gilt, will Mk mit seinem Evangelium schildern: im ersten Teil (Mk 1,1 - 8,26) zeigt Mk (besonders anhand des Brotwunders, vgl. 6,52 und 8,14.21), wie die Apostel zur Überzeugung kommen, dass Jesus der Christus ist. Er beschreibt, wie die messianische Offenbarung und die Verstockung der Gegner fortschreitet. Doch das Verständnis, dass Jesus der Christus ist, genügt noch nicht: solange die Apostel Jesus nur als Messias erkennen (das Petrusbekenntnis Mk 8,27-29 als Höhepunkt des ersten Teiles), haben sie noch nicht das volle Verständnis; deswegen wird ihnen das Schweigegebot auferlegt (Mk 8,30). Sie müssen auch, und dies ist der Inhalt des zweiten Teiles des Evangeliums (8,27 -16, 8), den "Weg nach Jerusalem", den ganzen Heilsplan Gottes, der für Jesus Tod und Auferstehung vorsieht, verstehen. In diesem Zusammenhang mit dem Leiden Jesu heißt es nun, Jesus habe dieses Wort "offen heraus" gesprochen (Mk 8,32). Hier spricht Jesus in Offenheit, die nichts verschweigt und verhüllt; aber er gibt nur jenen, die ihm auf dem Kreuzweg folgen, die Möglichkeit, sein Wesen zu verstehen. Dieses offene Wort gilt nur für die Jünger: "Sie wanderten durch Galiläa. Er wollte aber nicht, dass einer es wisse, denn er unterwies seine Jünger" (Mk 9,30) über das Los des Menschensohnes. Doch die Jünger sind unverständig. Erst beim Tode Jesu hört die Verborgenheit auf mit dem Bekenntnis des Hauptmannes (Mk 15,39): nun ist keine Gefahr mehr, dass die Gestalt Jesu missverstanden wird, denn durch das Leiden ist deutlich geworden, dass er nach dem Plane Gottes ein leidender Messias ist. So zeigen das Motiv des Unverständnisses der Jünger und das Wort des Hauptmanns, dass nach Mk das Geheimnis Jesu allmählich enthüllt wird. Das Ziel des ganzen Geschehens ist die weltweite Anerkennung Jesu als des Sohnes Gottes. Mk vertritt also mit der Geheimnistheorie die Anschauung, dass die Offenbarung sich allmählich vollzieht. Eine direkte Antwort auf die Frage, wann Jesu Wesen offen verkündet werden darf, findet sich im Schweigegebot Jesu an die drei Jünger bei der Verklärung: die Jünger dürfen niemandem sagen, was sie auf dem Berge gesehen haben, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist (Mk 9,9). Hier ist ein genauer Termin für die Enthüllung des Geheimnisses nach der Auferstehung. In der Auferstehung bricht die Herrlichkeit des Sohnes Gottes ungehindert durch und wird dann von den Jüngern verkündet. Die an das Petrusbekenntnis (Mk 8,27-30) sich anschließenden Perikopen über die erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung, Nachfolgeworte und Verklärung haben eine zentrale Bedeutung für das richtige Verständnis des Geheimnisses, denn in ihnen wird durch Komposition und redaktionelle Anfügungen das Geheimnis Jesu als Geheimnis des Leidens ("offene Rede" über das Leiden, Mk 8,32) und ausdrücklich (Mk 9,9) auch als Geheimnis der Auferstehungsherrlichkeit gezeigt. Durch die Geheimnistheorie bietet Mk also seine Auffassung von der Geschichte der Offenbarung: die ganze Geschichte Jesu ist eine fortschreitende Enthüllung des wahren Wesens Jesu. Diese allmähliche Offenbarung, die als die innere Handlung des Evangeliums zu gelten hat, vollzieht sich in Stufen:
- Eine erste, allerdings noch ungenügende Erkenntnis der Jünger ist erreicht im Bekenntnis des Petrus (Mk 8,27-29).
- Nachdem die Jünger zu dieser Erkenntnis gekommen sind, dass Jesus der Messias ist, führt Jesus sie in "offener Rede" in das Geheimnis des leidenden Menschensohnes ein (8,27 - 10,52).
- Im Tod und in der Auferstehung bricht die Offenbarung des wahren Wesens Jesu ungehindert durch und wird vor aller Welt verkündet. Den Spannungsbogen dieser Offenbarung drückt schon Mk 1,1 aus, wo auf die Höhepunkte von Mk 8,29 und 15,39 verwiesen wird: Anfang des Evangeliums von Jesus Christus (8,29), dem Sohne Gottes (15,39).
Die Geheimnistheorie drückt somit nach Mk aus, dass Jesus jener ist, der gelitten hat und auferstanden ist. Inhaltlich deckt sich die Aussage vom Geheimnis Jesu also mit dem Inhalt des Evangeliums (im Sinne der Urkirche und des Paulus): Botschaft von Tod und Auferstehung Jesu. Die "Geheimnistheorie" ist also die markinische Form der Botschaft von Tod und Auferstehung, wobei Tod und Auferstehung als Vollendung und Höhepunkt des Geschehensablaufes der allmählichen Offenbarung des Wesens Jesu dargestellt sind.
 
Wichtige Texte:
1,1: Anfang des Evangeliums Jesu Christi       
8,27-30: Bekenntnis des Petrus
15,39: Bekenntnis des Hauptmannes
 

Der verheißene Retter und sein Volk- Entstehung des Mt-Evangeliums
In der Zeit zwischen dem Tod Jesu und der Abfassung des Mt-Evangeliums (etwa um das Jahr 80 n. Chr.) waren Ereignisse eingetreten, die das Leben der von Jesus eingeleiteten Bewegung tief beeinflussten:
- Der Tempel von Jerusalem war im Jahr 70 von den Römern zerstört worden. Damit war das Zentrum des jüdischen Volkes vernichtet. Die Juden, die die Katastrophe überlebt hatten, sammelten sich nachher wieder und versuchten einen neuen Beginn. Die enge Verbindung, in der Jesus und die erste christliche Gemeinde von Jerusalem zum Judentum standen, schwindet. Die Kirche gewinnt ihre eigene Gestalt. Sie weiß sich als das wahre Israel, das Volk, mit dem Gott seinen Bund geschlossen hat.
- Das Christentum hatte den Weg zu den Heiden genommen. Obwohl Mt noch Jesusworte kennt, die davon wissen, dass Jesus sein irdisches Wirken auf das Volk Israel beschränkt hat (z. B. Mt 10,5f und 15,24), hat die Kirche nun jeden Partikularismus hinter sich gelassen (Mt 28,16-20).
- Eine Generation von Christen hat das Geheimnis Jesu im Lichte des Alten Testamentes durchdacht. Jesus Christus wurde als der Höhepunkt und die geheime Mitte der ganzen Heilsgeschichte erkannt.
- Dem Verfasser dieses Evangeliums standen andere schriftliche Quellen zur Verfügung: das Mk-Evangelium (geschrieben um 65 n. Chr.) und eine Sammlung von Jesusworten.
In dieser gewandelten Situation schreibt Matthäus sein Werk. Er bietet den Gemeinden die Überlieferungen von Jesus dar: als Erinnerung an Jesus, als Hilfe zur Bewältigung der neuen Situation und als neuen Zugang zum Verständnis des Alten Testamentes. Mit den Überlieferungen geht Matthäus sehr behutsam, um. Er nimmt auch Traditionen auf, die für seine Situation nicht mehr so wichtig sind (vgl. Mt 10,5f und 15,24). Immer deutlicher wird erkannt, dass die Botschaft Jesu für alle Menschen bestimmt ist und die Kirche eine Kirche aller Völker ist.
Was die Abfassung seines Werkes betrifft, hält sich Matthäus in der Anordnung des Stoffes an die Vorlage des Mk und bietet die Geschichte des Wirkens Jesu von Galiläa bis Jerusalem. In diese Vorlage baut er den Stoff aus der Sammlung der Herrenworte und andere Überlieferungsstoffe, die ihm zur Verfügung standen, ein. Die Worte Jesu stellt er mit Vorliebe in längeren Reden zusammen. Diese Reden, jeweils unter einem bestimmten Thema zusammengestellt, gliedern das Werk und geben ihm ein besonderes Gepräge:
 
Mt 5,1-7,29: "Ich aber sage euch ..." - Die neue Gerechtigkeit des Himmelreiches
Mt 9,35-10,42: "Ich sende euch ..." - Die Aussendung der Jünger
Mt 13,1-58: "Mit dem Himmelreich ist es wie ..." - Die Gleichnisrede
Mt 18,1-35: "Der Größte im Himmelreich" - Die Rede über die Kirche
Mt 24,1-25,46: "Seid wachsam" - Die Rede über die Endzeit
 
In der Darlegung von Wort und Wirken Jesu setzt Mt einige Akzente, durch die sich sein Werk von den anderen Evangelien unterscheidet.
 
Jesus ist der verheißene Messias
Die Gemeinde des Mt benützt das AT als Schlüssel, um das Geheimnis Jesu zu verstehen. Die Gemeinde erinnert sich an die Geschichte Gottes mit seinem Volk: den Bund mit Abraham, die Befreiung aus Ägypten, die Verheißung einer ewigen Königsherrschaft an David, und erkennt, dass Jesus alle Erwartungen des Volkes erfüllt: er ist der erhoffte Retter (Mt 1,1). Dieser Retter seines Volkes ist zugleich der Retter aller Völker, und seine Kirche, die für immer Bestand hat (Mt 16,18), ist eine Kirche aller Völker. Den Lesern, für die Matthäus sein Werk schreibt, ist das AT vertraut. Sie sind interessiert zu wissen, wie die Geschichte Gottes mit seinem Volk weitergeht. So zeigt Matthäus, indem er viele Stellen aus dem AT wörtlich anführt, dass diese Geschichte in Jesus ihre Vollendung findet.
 
Wichtige Texte:
Mt 5,17-20; 7,12; 22,40
 
Die Kirche ist das wahre Israel
Das Mt-Evangelium wird das kirchliche Evangelium genannt, nicht nur, weil es von alters her besonders hoch geachtet war, sondern auch, weil Mt in seinem Werk das Bild der Kirche deutlich hervortreten lässt. "Jesus von Nazaret ist der wahre Messias Israels; die zu ihm Gehörenden und an ihn Glaubenden bilden das neue Volk Gottes". In der "Hausordnung der Kirche" (Mt 18) zeigt Mt das innerste Wesen der Kirche: der barmherzige Vater ist Ziel und Maß des Verhaltens unter Christen, die sich, weil Gott Vater ist, Brüder und Schwestern nennen dürfen. Jesus ist das Band der Einheit und das Fundament der Gemeinschaft. Von der Kirche gilt, dass ihr der Bund Gottes geschenkt ist. Hatte Gott im AT seinem Volk seine schützende Gegenwart mit den Worten verheißen: "Ich bin mit dir", so ist dieses schützende "Gott-mit-uns" nun durch Jesus der Kirche geschenkt (1,23; 18,20; 28,20). Die Verpflichtungen, die aus diesem Bund erwachsen, werden von Jesus als dem neuen Moses "auf dem Berg" (vgl. Mt 5,1; 28,16) gegeben.
 
Wichtige Texte:
Mt 18; 28,16-20
 
Besonderen Nachdruck legt Mt auf die neuen Verhaltensweisen, die den Jünger auszeichnen. Die Bergpredigt (Mt 5-7) ist eine Sammlung von Weisungen Jesu, die die neue von Jesus gebotene Lebensform besonders eindringlich darlegen. Die Inhalte, die Jesus verkündet, und die Autorität, mit der er spricht, machen Jesus zum einzigen Lehrer, den die Jünger anerkennen sollen (Mt 23,10). Gegenüber einem Gesetzesverständnis, dem es vor allem auf die Buchstabentreue ankommt (so vertreten von den Gegnern Jesu, den Pharisäern und Schriftgelehrten) bringt Jesus die "Erfüllung" des Gesetzes: Der eigentliche Sinn des Gesetzes, nämlich die Gottesliebe und die "goldene Regel" der Nächstenliebe treten klar zutage (Mt 7,12; 22,40). Jeder einzelne steht in seinem Verhalten unmittelbar vor Gott, sodass die Weisung Jesu an den ganzen Menschen, mit seinem äußeren Verhalten und seiner inneren Haltung, ergeht.
 
Die Güte und Menschenfreundlichkeit Jesu - das Lukasevangelium
Lukas hebt in seinem Evangelium einige Gesichtspunkte besonders hervor:
- Güte und Menschenfreundlichkeit ist der kennzeichnende Zug des Wirkens Jesu;
- die Geschichte Gottes mit den Menschen ist eine Geschichte des Heiles: in Jesus kommen die Verheißungen, die Gott dem Volk Israel gegeben hatte, zur Vollendung; die Zeit des Heiles ist angebrochen;
- die Frohe Botschaft, die mit Jesus beginnt, nimmt in der Kraft des Heiligen Geistes ihren Weg in die Welt.
 
Wichtige Texte:
Lk 4,14-21; Apg 10,36-38
 
Diese zentralen Gedanken des Lk sind zusammengefasst in einem Bild, das in diesem Evangelium einen besonders wichtigen Platz einnimmt: im Bild des Mahles (Lk 14-15).
In diesem Bild gibt Jesus eine Zusammenfassung: Das Mahl ist eine Darstellung der Heilszeit. Wer daran teilnehmen darf, ist selig zu preisen (Lk 14,15). Wer jedoch die Einladung ablehnt, wird ausgeschlossen (Lk 14,24). Eines der schönsten Gleichnisse, das vom gütigen Vater und dem verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), schildert das Mahl als Aufhebung der Heimatlosigkeit und Not. Jesus sah seine Sendung nicht darin, vom Mahl nur zu sprechen und es für die Zukunft zu verheißen; zum Auffälligsten seiner Wirksamkeit gehört seine Mahlgemeinschaft mit den Menschen. Besonders Lk berichtet davon: Jesus isst im Haus eines Pharisäers (Lk 7,36; 14,1), im Haus eines Zöllners (Lk 19,6-10). Die Mahlgemeinschaft mit Sündern und Zöllnern wurde Jesus allerdings auch zum Vorwurf gemacht. Pharisäer und Schriftgelehrte empörten sich, und Jesus wurde "der Fresser und Säufer, der Freund der Zöllner und Sünder" genannt (Lk 7,34 par; 15,2). Dass Jesus allen Menschen, auch den Sündern, die Mahlgemeinschaft - Zeichen der Verbundenheit und Freundschaft - anbot, ist Ausdruck des völlig neuen Gottesbildes, das er brachte. Die Kirche führt dies fort: in der Eucharistie wird die Mahlgemeinschaft des irdischen Jesus, die Begegnung und Mahlgemeinschaft des Auferstandenen mit seinen Jüngern und die Hingabe Jesu für die Menschen gefeiert (vgl. Lk 24).
Das Mahl, Inbegriff des Heiles, ist auch Symbol der Forderungen Jesu: es gilt die Einladung anzunehmen (Lk 14,14f). Vom Mahlverhalten lassen sich Klugheitsregeln ableiten, die für das ganze Leben gelten: "Suche nicht die ersten Plätze" (Lk 14,7-11). Für Christen ändern sich auch die Prinzipien, nach denen man Gäste einlädt: "Lade nicht Verwandte und reiche Nachbarn ein; lade Arme, Krüppel und Blinde ein. Sie können es nicht vergelten. Es wird dir vergolten bei der Auferstehung.